Ein Besuch der Stadt Kaliningrad

Plötzliche Begegnung mit der Vergangenheit

Wikipedia Kaliningrad
Am 12.08.2001 komme ich aus Köln mit einem Bus in Königsberg alias Kaliningrad an und werde von den Helden des Buches „Irina“, nämlich von Alexander und seiner Frau Irina auf dem Südhauptbahnhof erwartet. Es ist Sonntag, die beiden sind aus Kiew gekommen und wollen mir die Stadt zeigen. Sie sind rein beruflich sehr oft in Kaliningrad. Ich soll in der hiesigen Bibelschule Pastoraltheologie unterrichten, darum fahre ich zuerst zur Bibelschule, lasse meinen Koffer da, mache mich frisch und will los. Die Bibelschule befindet sich auf dem Gelände der Freikirche „Der Friede“, in der gerade der Gottesdienst zu Ende gegangen ist und ich gehe auf die Leute noch zu, um einige Glaubensgenossen kennenzulernen. Plötzlich, wie aus der Erde gestampft, steht eine Frau vor mir und grüßt mich und spricht mich beim Namen an. Ich zucke die Schulter und sage: „Ich glaube, ich kenne Sie nicht.“ Sie stellt sich vor: „Oberstleutnant der sowjetischen Justitia (sie betont Justitia) Raissa Kebernik.“ Der Name sagt mir immer noch nichts. Sie hilft, meine Gedächtnislücken auszufüllen: „1963 bis 1965. Aufbau einer geheimnisumwitterten Stadt Stepnogorsk.“ Es beginnt bei mir zu dämmern. 
https://www.google.de/search?q=Bilder+Stepnogor&espv=2&tbm=isch&tbo=u&
source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwiMx7DUrLPTAhXJfFAKHQH
_A1UQsAQIIg&biw=1280&bih=907#imgdii=
MqEXlK4KXlPUbM:&imgrc=x44ChLWmPSdMiM:
Tausende Häftlinge, unter ihnen auch ich, sind am Bau einer der schönsten Städten von Kasachstan beschäftigt gewesen, die bis vor kurzem auf keiner Landkarte zu finden war. Wir haben unterirdische Bunker, Aufbereitungsanlagen für Plutonium, Wohnungen für Wissenschaftler und regelrechte Villen für Staatsbeamte gebaut. Häftlingen sind als Versuchskaninchen mißbraucht worden: wir haben mit Uranerz ohne entsprechenden Schutzanzügen und Handschuhen hantiert. Wir sind ständig von Ärzten beobachtet worden und haben uns der „gütigen“ Aufmerksamkeit der Vollzugsbeamten „erfreut“; wir haben nicht im Geringsten geahnt, was das Ganze sollte. Erst als sämtliche Häftlinge an Blutkrebs erkrankt gewesen sind, begreifen wir, was da „gespielt“ wurde. Viele Häftlinge haben sich bei der Aufsichtsbehörde der Haftanstalten des Innenministeriums beschwert. Sie sind jedoch wegen „Verleumdung der sowjetischen Wirklichkeit“ zu zusätzlichen Haftstrafen verurteilt worden und haben nie die Freiheit erblickt. Raissa ist damals eine aufsteigende Juristin gewesen. Nun steht sie vor mir im Zivil; ich bin sprachlos. „Ich habe eine dramatische Bekehrung erlebt“, teilt sie mir mit und setzt fort: „Ich bin von Saulus zum Paulus konvertiert worden.“ Ich habe es ja eilig und frage nur: „Was beabsichtigte man damals mit uns?“ Das leuchtende Gesicht wird plötzlich unendlich traurig: „Ich darf auch heute nichts von alledem preisgeben.“ „Sie unterliegt der Schweigepflicht wie ein guter Seelsorger“, schoss mir der makabre Vergleich durch den Kopf. „Es ist in Ordnung, Raissa. Schreiben Sie mir zur ‚Belohnung‘ für damaliges Leiden Ihre dramatische Bekehrung auf.“ Sie nickt zustimmend und sagt: „Ich habe gewußt, dass Sie nicht all Zuviel von der Verstrahlung bekommen haben. Gott hat über Sie gewacht.“ Ich gucke sie nochmals prüfend an, denke an die vielen Opfer und renne zu Irina und Alexander.

Begegnung mit Irina und Alexander: Segnung eines Paars

Die beiden bringen mich ins Zentrum der Stadt, zur lutherischen Kathedrale, die renoviert wird. Wir betreten die Kirche und staunen sofort, dass links vom Eingang die Orthodoxe Kirche in einem separaten Raum für sich eine Kapelle (Tschassovnja) eingerichtet hat. „Die Lutheraner billigen das wohl“, meint Irina. „Hier wird intensiv ökumenisch gearbeitet“, meint Alexander. Ich zucke wie immer die Schulter, denn ich weiß es doch nicht. Hinter der Kirche von außen entdecken wir ein Brautpaar mit seinen Gästen, das sich am Grab von Emanuel Kant mehrfach fotografieren ließ. Irina schmunzelt leicht ironisch: „Na, Du alter Knabe, “ sie wendet sich zum Grab des Philosophen Kant und setzt fort: „deine Sterbereste fühlen sich sicherlich geehrt, dass sie von jungen Menschen als Glücksbringer betrachtet werden. Vielleicht wird sich das junge Paar an deine Pflichtethik erinnern: ‚Ich soll, darum kann ich‘ und wird nicht sofort nach einer Ehebagatelle an die Scheidung denken, sondern für eine harmonische Ehe Kniearbeit leisten.“ Das sagt sie alles so laut, dass das junge Brautpaar auf uns zugeht und fragt: „Sind sie Christen?“ Irina spielt die Sprecherin und erklärt: „Der eine ist Pastor, mein Mann Älteste.“ „Gut“, sagt die Braut. Wir sollten in einer Freikirche getraut werden. Der Pastor erfuhr von jemand, dass mein Bräutigam zwar bekehrt, aber noch nicht getauft ist, und verweigerte uns die Trauung.“ „Erst heute!“ reagiere ich erstaunt. Alexander fällt mir ins Wort und fragt: „Habt ihr beide eine bewußte Hinwendung an Jesus Christus vollzogen und seid ihr bereit, in guten und bösen Tagen einander zu lieben und treu zu bleiben, bis dass der Tod euch scheidet?“ „Ja!“ war die Antwort und zwar in unisono. „Kniet nieder!“ „Alexander!“ schrie Irina entrüstet: „Das Kleid!“ Der Trauzeuge ist schon an der Stelle und legt seine Jacke auf das Gras und das Paar kniet nieder. Alexander und ich heben die Hände über sie sprechen das Segensgebet. „Als Diener am Evangelium erklären wir Euch als Mann und Frau. Das Ehepaar darf sich küssen“, rundet Alexander ab. Die Braut fällt dem Bräutigam um den Hals und sagt: „Siehst Du! Ist Gott nicht ein Gott, der die gedemütigten Herzen tröstet?!“ Um uns hat sich eine Schar von Schaulustigen versammelt und das laute Klatschen ist weit und breit zu hören. Wir werden zur Feier eingeladen, aber nach Austausch von Visitenkarten machten wir uns davon.

Die alte Dame und Abschied

Wikipedia Kaliningrad
Im Park, unweit vom Dom, setzen wir uns neben einer älteren Dame auf die Bank. Sie merkt, dass wir von der Architektur des Doms sehr angetan sind. „Ich glaube nicht an Gott“, sagt sie unvermittelt, und wir starren sie verblüfft an. „Was hat das mit dem Dom zu tun?“ fragt Irina. „Sehen Sie“, beginnt die Dame zu erklären. „Ich war vor und während des 2. Weltkrieges sehr von der Kirchenarchitektur angetan. Ich lief in die Kirche, weil ich glaubte, dass sie die Behausung Gottes ist. Nach dem Krieg machte man aus dieser Kirche einen Kornspeicher und später einen Pferdestall. Seitdem glaube ich an Gott nicht. Wie kann Gott es zulassen, dass man aus seiner Behausung einen Pferdestall macht. Die Kommunisten trieben diesen Gott aus seinem Haus. Verstehen Sie? Kann man da noch von einem allmächtigen Gott sprechen?“ Irina ist Wissenschaftlerin. Sie umarmt die alte Frau und erklärt in einem etwas philosophischen „Jargon“: „Das ist es ja, Mütterchen. Gott haust nicht in den von Menschenhänden gemachten Gebäuden, sondern in den zerschlagenen und gedemütigten Menschenherzen, um ihn zu trösten und ihm zu helfen, seine Not durchzustehen.“ Irina zitiert aus Jesaja 57,15. „Gucken Sie sich doch unsere Mitmenschen an. Sie haben keinen Orientierungssinn. Sie konsumieren zu viel Alkohol, nehmen Drogen, haben kein Verständnis für die Not des anderen, leben ichbezogen und strecken sich nicht nach dem Ewigen aus. Wenn Menschen sich Gott öffnen, wird er in ihr Leben einziehen, ihnen Orientierung schaffen und fähig machen, nach dem göttlichen Gebot der Liebe zu leben.“

Vera Maximovna, so heißt sie, wird nachdenklich und schweigt. Wir auch und beten gedanklich für sie. Dann wendet sie sich an Irina mit einer ungewöhnlichen Bitte: „Würden Sie mit mir beten?“ „Sicher!“ sagt Irina. „Aber ich möchte, dass Sie auch beten.“ Sie nickt und beginnt sitzend zu beten: „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann kehre in mein Herz und vertreibe die Dunkelheit in mir und schaffe Licht. Ich habe deine Diener verfolgt. Sie haben viel wegen meinen Untaten leiden müssen, besonders die Protestanten. Vergib, o Gott, wenn es dich gibt, mein Fehlverhalten.“ Irina legt ihre Hand um die Schulter von Vera Maximovna und spricht ein ergreifendes Gebet. Alexander und ich sind sehr bewegt und schweigen. Die alte Dame richtet sich auf, guckt uns an und sagt: „Warum schweigt ihr, Unholde? Seid ihr gottlos?“ Etwas beschämt, aber innerlich schmunzelnd über ihre Entrüstung, beten wir auch. Die Dame sagt zum Schluss laut „Amen“. Passanten bleiben verwundernd stehen und beobachten uns. Die Dame steht auf, gibt Irina die Hand: „Danke! Jetzt weiß ich, was mit mir los war. Ich habe Schuld auf mich geladen und habe nicht gewußt, wie ich von ihr frei werden könnte. Jetzt bin ich frei, jetzt glaube ich wieder.“ Irina küsst auf ihre von durchfurchten Falten gekennzeichneten Wangen und drückt ihr Adressen von evangelikalen Gemeinden der Stadt in die Hand, die sie immer vorsorglich bei sich hat. Wer ist diese Frau? Was ist ihr Beruf gewesen? Werden wir es je erfahren? Am späten Nachmittag begleite ich Irina und Alexander ins Hotel; sie müssen am nächsten Tag ihre Geschäfte wieder aufnehmen. Es ist ein aufregender Tag gewesen, der aber, wie viele andere auch, unvergeßlich in meiner Erinnerung bleiben.

Kommentare