Ein Besuch der Stadt Kaliningrad
Plötzliche Begegnung mit der Vergangenheit
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Am
12.08.2001 komme ich aus Köln mit einem Bus in Königsberg alias Kaliningrad an
und werde von den Helden des Buches „Irina“, nämlich von Alexander und seiner
Frau Irina auf dem Südhauptbahnhof erwartet. Es ist Sonntag, die beiden sind
aus Kiew gekommen und wollen mir die Stadt zeigen. Sie sind rein beruflich sehr
oft in Kaliningrad. Ich soll in der hiesigen Bibelschule Pastoraltheologie
unterrichten, darum fahre ich zuerst zur Bibelschule, lasse meinen Koffer da,
mache mich frisch und will los. Die Bibelschule befindet sich auf dem Gelände
der Freikirche „Der Friede“, in der gerade der Gottesdienst zu Ende gegangen
ist und ich gehe auf die Leute noch zu, um einige Glaubensgenossen
kennenzulernen. Plötzlich, wie aus der Erde gestampft, steht eine Frau vor mir
und grüßt mich und spricht mich beim Namen an. Ich zucke die Schulter und sage:
„Ich glaube, ich kenne Sie nicht.“ Sie stellt sich vor: „Oberstleutnant der
sowjetischen Justitia (sie betont Justitia) Raissa Kebernik.“ Der Name sagt mir
immer noch nichts. Sie hilft, meine Gedächtnislücken auszufüllen: „1963 bis
1965. Aufbau einer geheimnisumwitterten Stadt Stepnogorsk.“ Es beginnt bei mir
zu dämmern.
https://www.google.de/search?q=Bilder+Stepnogor&espv=2&tbm=isch&tbo=u& source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwiMx7DUrLPTAhXJfFAKHQH _A1UQsAQIIg&biw=1280&bih=907#imgdii= MqEXlK4KXlPUbM:&imgrc=x44ChLWmPSdMiM: |
Tausende Häftlinge, unter ihnen auch ich, sind am Bau einer der
schönsten Städten von Kasachstan beschäftigt gewesen, die bis vor kurzem auf
keiner Landkarte zu finden war. Wir haben unterirdische Bunker,
Aufbereitungsanlagen für Plutonium, Wohnungen für Wissenschaftler und
regelrechte Villen für Staatsbeamte gebaut. Häftlingen sind als
Versuchskaninchen mißbraucht worden: wir haben mit Uranerz ohne entsprechenden
Schutzanzügen und Handschuhen hantiert. Wir sind ständig von Ärzten beobachtet
worden und haben uns der „gütigen“ Aufmerksamkeit der Vollzugsbeamten
„erfreut“; wir haben nicht im Geringsten geahnt, was das Ganze sollte. Erst als
sämtliche Häftlinge an Blutkrebs erkrankt gewesen sind, begreifen wir, was da
„gespielt“ wurde. Viele Häftlinge haben sich bei der Aufsichtsbehörde der
Haftanstalten des Innenministeriums beschwert. Sie sind jedoch wegen
„Verleumdung der sowjetischen Wirklichkeit“ zu zusätzlichen Haftstrafen
verurteilt worden und haben nie die Freiheit erblickt. Raissa ist damals eine
aufsteigende Juristin gewesen. Nun steht sie vor mir im Zivil; ich bin
sprachlos. „Ich habe eine dramatische Bekehrung erlebt“, teilt sie mir mit und
setzt fort: „Ich bin von Saulus zum Paulus konvertiert worden.“ Ich habe es ja
eilig und frage nur: „Was beabsichtigte man damals mit uns?“ Das leuchtende
Gesicht wird plötzlich unendlich traurig: „Ich darf auch heute nichts von
alledem preisgeben.“ „Sie unterliegt der Schweigepflicht wie ein guter
Seelsorger“, schoss mir der makabre Vergleich durch den Kopf. „Es ist in
Ordnung, Raissa. Schreiben Sie mir zur ‚Belohnung‘ für damaliges Leiden Ihre
dramatische Bekehrung auf.“ Sie nickt zustimmend und sagt: „Ich habe gewußt, dass
Sie nicht all Zuviel von der Verstrahlung bekommen haben. Gott hat über Sie
gewacht.“ Ich gucke sie nochmals prüfend an, denke an die vielen Opfer und
renne zu Irina und Alexander.
Begegnung mit Irina und Alexander:
Segnung eines Paars
Die beiden
bringen mich ins Zentrum der Stadt, zur lutherischen Kathedrale, die renoviert
wird. Wir betreten die Kirche und staunen sofort, dass links vom Eingang die
Orthodoxe Kirche in einem separaten Raum für sich eine Kapelle (Tschassovnja)
eingerichtet hat. „Die Lutheraner billigen das wohl“, meint Irina. „Hier wird
intensiv ökumenisch gearbeitet“, meint Alexander. Ich zucke wie immer die
Schulter, denn ich weiß es doch nicht. Hinter der Kirche von außen entdecken
wir ein Brautpaar mit seinen Gästen, das sich am Grab von Emanuel Kant mehrfach
fotografieren ließ. Irina schmunzelt leicht ironisch: „Na, Du alter Knabe, “ sie
wendet sich zum Grab des Philosophen Kant und setzt fort: „deine Sterbereste
fühlen sich sicherlich geehrt, dass sie von jungen Menschen als Glücksbringer
betrachtet werden. Vielleicht wird sich das junge Paar an deine Pflichtethik
erinnern: ‚Ich soll, darum kann ich‘ und wird nicht sofort nach einer
Ehebagatelle an die Scheidung denken, sondern für eine harmonische Ehe
Kniearbeit leisten.“ Das sagt sie alles so laut, dass das junge Brautpaar auf
uns zugeht und fragt: „Sind sie Christen?“ Irina spielt die Sprecherin und
erklärt: „Der eine ist Pastor, mein Mann Älteste.“ „Gut“, sagt die Braut. Wir
sollten in einer Freikirche getraut werden. Der Pastor erfuhr von jemand, dass
mein Bräutigam zwar bekehrt, aber noch nicht getauft ist, und verweigerte uns die
Trauung.“ „Erst heute!“ reagiere ich erstaunt. Alexander fällt mir ins Wort und
fragt: „Habt ihr beide eine bewußte Hinwendung an Jesus Christus vollzogen und
seid ihr bereit, in guten und bösen Tagen einander zu lieben und treu zu
bleiben, bis dass der Tod euch scheidet?“ „Ja!“ war die Antwort und zwar in
unisono. „Kniet nieder!“ „Alexander!“ schrie Irina entrüstet: „Das Kleid!“ Der
Trauzeuge ist schon an der Stelle und legt seine Jacke auf das Gras und das
Paar kniet nieder. Alexander und ich heben die Hände über sie sprechen das
Segensgebet. „Als Diener am Evangelium erklären wir Euch als Mann und Frau. Das
Ehepaar darf sich küssen“, rundet Alexander ab. Die Braut fällt dem Bräutigam
um den Hals und sagt: „Siehst Du! Ist Gott nicht ein Gott, der die gedemütigten
Herzen tröstet?!“ Um uns hat sich eine Schar von Schaulustigen versammelt und
das laute Klatschen ist weit und breit zu hören. Wir werden zur Feier
eingeladen, aber nach Austausch von Visitenkarten machten wir uns davon.
Die alte Dame und Abschied
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Im Park,
unweit vom Dom, setzen wir uns neben einer älteren Dame auf die Bank. Sie
merkt, dass wir von der Architektur des Doms sehr angetan sind. „Ich glaube
nicht an Gott“, sagt sie unvermittelt, und wir starren sie verblüfft an. „Was
hat das mit dem Dom zu tun?“ fragt Irina. „Sehen Sie“, beginnt die Dame zu
erklären. „Ich war vor und während des 2. Weltkrieges sehr von der
Kirchenarchitektur angetan. Ich lief in die Kirche, weil ich glaubte, dass sie
die Behausung Gottes ist. Nach dem Krieg machte man aus dieser Kirche einen
Kornspeicher und später einen Pferdestall. Seitdem glaube ich an Gott nicht.
Wie kann Gott es zulassen, dass man aus seiner Behausung einen Pferdestall
macht. Die Kommunisten trieben diesen Gott aus seinem Haus. Verstehen Sie? Kann
man da noch von einem allmächtigen Gott sprechen?“ Irina ist Wissenschaftlerin.
Sie umarmt die alte Frau und erklärt in einem etwas philosophischen „Jargon“:
„Das ist es ja, Mütterchen. Gott haust nicht in den von Menschenhänden
gemachten Gebäuden, sondern in den zerschlagenen und gedemütigten
Menschenherzen, um ihn zu trösten und ihm zu helfen, seine Not durchzustehen.“
Irina zitiert aus Jesaja 57,15. „Gucken Sie sich doch unsere Mitmenschen an.
Sie haben keinen Orientierungssinn. Sie konsumieren zu viel Alkohol, nehmen
Drogen, haben kein Verständnis für die Not des anderen, leben ichbezogen und
strecken sich nicht nach dem Ewigen aus. Wenn Menschen sich Gott öffnen, wird
er in ihr Leben einziehen, ihnen Orientierung schaffen und fähig machen, nach
dem göttlichen Gebot der Liebe zu leben.“
Vera
Maximovna, so heißt sie, wird nachdenklich und schweigt. Wir auch und beten
gedanklich für sie. Dann wendet sie sich an Irina mit einer ungewöhnlichen
Bitte: „Würden Sie mit mir beten?“ „Sicher!“ sagt Irina. „Aber ich möchte, dass
Sie auch beten.“ Sie nickt und beginnt sitzend zu beten: „Lieber Gott, wenn es
dich gibt, dann kehre in mein Herz und vertreibe die Dunkelheit in mir und
schaffe Licht. Ich habe deine Diener verfolgt. Sie haben viel wegen meinen
Untaten leiden müssen, besonders die Protestanten. Vergib, o Gott, wenn es dich
gibt, mein Fehlverhalten.“ Irina legt ihre Hand um die Schulter von Vera
Maximovna und spricht ein ergreifendes Gebet. Alexander und ich sind sehr
bewegt und schweigen. Die alte Dame richtet sich auf, guckt uns an und sagt:
„Warum schweigt ihr, Unholde? Seid ihr gottlos?“ Etwas beschämt, aber innerlich
schmunzelnd über ihre Entrüstung, beten wir auch. Die Dame sagt zum Schluss
laut „Amen“. Passanten bleiben verwundernd stehen und beobachten uns. Die Dame
steht auf, gibt Irina die Hand: „Danke! Jetzt weiß ich, was mit mir los war.
Ich habe Schuld auf mich geladen und habe nicht gewußt, wie ich von ihr frei
werden könnte. Jetzt bin ich frei, jetzt glaube ich wieder.“ Irina küsst auf
ihre von durchfurchten Falten gekennzeichneten Wangen und drückt ihr Adressen
von evangelikalen Gemeinden der Stadt in die Hand, die sie immer vorsorglich
bei sich hat. Wer ist diese Frau? Was ist ihr Beruf gewesen? Werden wir es je
erfahren? Am späten Nachmittag begleite ich Irina und Alexander ins Hotel; sie
müssen am nächsten Tag ihre Geschäfte wieder aufnehmen. Es ist ein aufregender
Tag gewesen, der aber, wie viele andere auch, unvergeßlich in meiner Erinnerung
bleiben.
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